Ein- und Ausblicke: Schlesiens verlorene Orte

Von Kai Kranich

Meist abgelegen, kaum zugänglich, verbarrikadiert und mit einem „Betreten verboten“ Schild versehen, präsentieren sich dem Suchenden die Orte seines Interesses. Für einige Zeitgenossen hat das Hobby verlorene Orten („Lost Places“) zu finden einen ganz besonderen Reiz entwickelt. Untereinander verbindet sie nicht selten der Antrieb, die melancholische Stimmung an diesen Orten aufwendig fotografisch festzuhalten. Ich bin ebenfalls dieser Freizeitbeschäftigung verfallen und meine Suche führt mich oft nach Schlesien.

Aber nähern wir uns zunächst diesen Orten in konzentrischen Kreisen. Wir wollen sie nicht überfallen, sondern mit weitem Blick abstrakt begreifbar machen. Was ist es, was „Lost Places“ so besonders macht und was einen auch den schwierigsten Weg durch dorniges Gestrüpp auf sich nehmen lässt? Es ist wohl die Verlockung etwas wiederzufinden, etwas, das die Menschen um einen herum vergessen, „verloren“ haben. „Lost Places“ sind keine Naturwunder, sondern von Menschen gemachte Einöden, in der die Natur ihre Kraft zurückgewinnt. In dieser Ödnis finden Menschen Inspiration von Dingen, die hinter uns liegen und vor uns sein können. Dieser doppelte Aspekt der Zeit und die menschliche Sehnsucht danach eben diese Zeit zu beherrschen, macht den besonderen Reiz aus. „Lost Places“ sind begehbare Zeitkapseln, die einen Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft gewähren.

Einer der berühmtesten Orte für solche Begegnungen ist die Sperrzone um Tschernobyl. Mit der plötzlichen Flucht der Menschen vor der radioaktiven Katastrophe von 1986 ist ein ganzer Landstrich und sogar eine komplette Stadt entvölkert worden. Die Bilder von Füllfederhalter, Puppen und ersten Schreibproben an der Kreidetafel in einer Schule lassen den Betrachter erschaudern, weil man selbst seine eigene Kindheit darin wiedererkennt. Die Kinder von Tschernobyl wurden an diesem Ort aus der Zeit gerissen. An ein und demselben Ort kann auch ein Blick in die Zukunft riskiert werden und der Betrachter erhält eine Ahnung davon, was passiert, wenn wir Menschen nicht mehr auf der Erde sind und sich niemand mehr um die Infrastruktur kümmern kann. Ein Motiv also, welches in vielen Hollywood-Streifen wie „The book of Eli“ oder „I Am Legend“ aufgenommen wurde.

„Lost Places“ sind also nicht nur Orte voll romantischer Träumerei und Abenteuerspielplätze. Sie sind oft Plätze, die nicht nur aus ökonomischen Gründen vergessen werden sollten. Die Schrecken des 20. Jahrhunderts haben eine ganze Provinz zu einem einzigen „Lost Place“ werden lassen. Schlesien ist reich an verlorenen Orten. Das, was heute davon noch übrig ist, regt immer wieder zum Nachdenken und Erinnern an, polarisiert auch gern und lässt sich daher wenig romantisieren. Zum einen sind da viele alte Gutshäuser und Schlösser, die den Flammen oder den Verfall preisgegeben wurden. Aber auch evangelische Kirchen, die keine Gemeinde mehr fanden, da nach Flucht und Vertreibung der deutschen Schlesier, eine katholische Kirche im Ort reichte. Neben solchen stillen Erinnerungsorten, die uns noch heute ein Gefühl für den plötzlichen Verlust von Heimat und Identität geben, gibt es Plätze, die uns verstehen lassen, warum dieses Unheil über Schlesien gekommen ist. Dazu zählt natürlich Auschwitz-Birkenau, wo die zu hunderten in den Himmel ragenden Kamine uns die Masse, der hier unter dem Nationalsozialismus leidenden Europäer vor Augen führt. Jedoch handelt es sich bei Auschwitz streng genommen nicht um einen vergessenen Ort.

Weniger bekannte Orte sind hingegen die Außenlager des KZ´s Gross-Rosen oder die Bunkeranlagen im Schloss Fürstenstein bei Waldenburg (Wałbrzych), wo die berüchtigte „Organisation Todt“ ein Führerhauptquartier und unterirdische Produktionsanlagen baute. Überhaupt finden sich noch viele Spuren des einstigen „Reichsluftschutzbunker Schlesien“. Rund um Kandrzin-Cosel (Kędzierzyn-Koźle) stehen heute noch im Wald „Einmannbunker“ und zeugen von der wirtschaftlichen Bedeutung des Ortes, als im Zweiten Weltkrieg dort synthetisches Benzin hergestellt wurde. Auch die Produktionsanlagen für chemische Kampfstoffe in Dyhernfurth (Brezg Dolny), nordwestlich von der ebenfalls mit Bunkern durchzogenen „Festung Breslau“, reihen sich in dieses Bild ein.

Ob Panzer oder Soldat, ob Flüchtling oder Kriegsgefangener, ob Jude oder Deutscher, sie alle wurden mit der Eisenbahn durch Schlesien gebracht. Daher ist das ehemalige Eisenbahnstellwerk in Preiskretscham (Pyskowice) nordwestlich von Gleiwitz ein besonderer Ort, der Geschichte fernab musealer Sterilität nahebringt. Ein Artikel in einer Tageszeitung hat mich auf die Spur zu diesen technischen Reliquien des vergangenen Jahrhunderts gebracht. Der Lokschuppen selbst hat alles, was „Lost Places“ ausmacht: Die Farbschichten bröckeln von der Wand. Aus den rostigen Öfen, mit denen die Bahntechniker die riesige Halle wärmten, wächst ein junger Farn.

Vergilbte Postkarten erinnern an die Menschen, die hier arbeiteten und kollegial Urlaubsgrüße nach Hause schickten. Schiefe Hinweisschilder mahnen zur Wachsamkeit um der eigenen Gesundheit willen – aus einem offenen Schrank quellen leere Wodkaflaschen. Durch die mit Gitterstäben versehenen Fenster fällt der Blick auf die Objekte, weswegen ich mich mit einem guten polnischen Freund hierher auf den Weg gemacht habe: „Kriegsdampflokomotiven“. Hinter dem Lokschuppen stehen verschiedene alte Dampfloks, mal in Einzelteilen, mal im Ganzen. Uns interessierten, die vom Reichsministerium für Bewaffnung und Munition in Auftrag gegebenen Lokomotiven, die besonders für die harten Winter in Russland produziert worden sind. Wir suchen nach Spuren, wie deutschen Innschriften oder Zeichen. An einer Lokomotive werden die Brüche der Zeit um 1945 sichtbar.

Auf dem Tender stehen auf Deutsch einige schwer entzifferbare Angaben, aber oberhalb des Führerhauses ist eine Tafel mit der Inschrift „Produziert 1945 in Posen“ angebracht. Es handelt sich aber eindeutig um eine deutsche „Kriegsdampflokomotive“, wie der charakteristische bauchige Tender verrät. So wie vorher alles und jeder germanisiert wurde, wurde dieses Lokomotive nach dem Krieg polonisiert. Es ist leicht sich vorzustellen, wie diese Lokomotiven zum Rückgrat des deutschen Nachschubs wurden. Sie waren der Nabel, welcher Soldaten mit Verpflegung und Munition versorgte und viel zu selten sehnsüchtig erwartete Botschaften aus der Heimat brachte. Sie waren aber auch Fluch für Juden und andere Europäer, sowie Symbol einer perfiden Logistikmaschinerie, die im Zeichen der Moderne, Menschen zu ihren Hinrichtungsorten brachte.

Am Ende waren die Lokomotiven mit ihren Waggons Hoffnung für Frauen und Kinder, der Soldateska aus dem Osten zu entfliehen und gleichzeitig sind sie die in Stahl gegossene Wehmut darüber, ein Stück Heimat verlassen zu müssen. Hier bei Gleiwitz, wo der menschenverachtende Zweite Weltkrieg begann, stehen nun diese Stahlrösser regungslos in der Sonne und können uns sicherlich noch viel davon erzählen, welche Wege sie nach dem leidvollen Krieg genommen haben. Sie waren oft bis weit in die 80iger Jahre im Einsatz. Nun warten sie darauf, an ihrem Lebensabend noch eine Attraktion für Kinder zu werden.

Wie sich im Nachhinein bei der Recherche herausgestellt hat, sollte auf dem gesamten Gelände ein Eisenbahnmuseum entstehen. Im Winter 2006 fiel dann aber aufgrund der Schneelast das Dach des Lockschuppens ein und von da an standen die musealen Stücke teils in den Resten des Schuppens, doch mehrheitlich davor. Es sieht nicht danach aus, als würden Gelder für die Restaurierung und Wiederaufbau dieser Anlage zur Verfügung stehen. Außerdem gelangt man nur zu Fuß über die Gleise der viel befahrenen Strecke Gleiwitz-Breslau zu der Anlage. Dieser Ort wird wohl immer weiter dem Vergessen anheimfallen und die Natur ihn sich Stück für Stück zurückholen. Meine Kamera klickt.

Foto: Kai Kranich