Jackson – Von Tim Pinder

Symbolfoto. Foto: pixelio.de/Lutz Stallknecht

Jay stand vor seinem Spiegel und gelte sich die Haare. Mit viel Fingerspitzengefühl und
noch mehr Hingabe behandelte er jede Strähne wie ein Stück rohe Seide. Immerhin
stehen die Mädchen in der Schule drauf. Und Jay, der eigentlich Jason hieß, würde einen
Teufel tun, dem entgegenzuwirken. Er war stolz auf seine athletische Figur, aber noch
stolzer war er auf seine dunklen, satten Haare. Die ließen ihn manchmal wie einen
kleinen Mafioso aussehen.

Als ihn seine Mutter zum Essen rief, gehorchte der Junge nur widerwillig. Immerhin
hatte er heute noch Großes vor. Es war an der Zeit mit Melinda ins Kino zu gehen. Und
da wollte er nicht zu spät kommen. Und schon gar nicht durch eine so banale Sache wie
Abendbrot essen. 12 Wochen hatte er jetzt an Melinda herum gebaggert. Sicher, Jay
hätte jede andere haben können. Womöglich hätte es bei den meisten Mädchen bereits
genügt, mit den Fingern zu schnippen und sie wären ihm reihenweise verfallen. Doch
nicht so Melinda. Das groß gewachsene dunkelhaarige Wesen wandelte in anderen
Sphären. Sie umgab immer so eine Art Mysterium. Wenn sie Jemanden anschaute,
erstarrte dieser Jemand erst einmal zur Salzsäule. Ihre stahlblauen Augen bohrten sich
in das Gehirn des Gegenübers und ließen es erst wieder frei denken, wenn sie den Blick
senkte. Niemand konnte Melinda etwas vormachen. Und genau das war es, was Jay
faszinierte. Er schlang das gebratene und vor Fett triefende Hackfleisch herunter und
bemerkte gar nicht, dass auch getoastete Brötchen bereit lagen, um einen Hamburger
daraus zu formen.

“Ciao Mama!”, schnallzte Jay noch mit letzten kleinen Fleischresten zwischen den
Zähnen in Richtung seiner Mutter.

Die Italienerin in ihren besten Jahren stand mit einer blaugetupften Kittelschürze im
Türrahmen und schickte ihrem Sohn ein vertrautes Lächeln hinterher. Trotz ihrer
beinahe 40 Jahre hatte sie noch immer den Anmut einer Zwanzigjährigen. Auch ihre
Brüste schienen von einer Jüngeren zu stammen. Voluminös füllten diese ihr eng
anliegendes rotes ärmelloses Shirt aus. Jay war diesen Anblick gewöhnt. Andere Männer
verfielen jedoch reihenweise ins Sabbern, wenn sie seine Mutter – beispielsweise im
Supermarkt – vorbeilaufen sahen.

Jay hatte sich seinen Rucksack auf den Rücken geworfen und rannte die Einfahrt des
gepflegten kleinen Einfamilienhauses herunter. Fahrrad oder Longboard, was wäre jetzt
cooler? “Ach scheiße, ich bin spät dran. Das Fahrrad muss reichen.”, dachte Jay.
Melinda würde sicher schon ungeduldig auf ihn vor dem Cineplex warten. Sie war
irgendwie faszinierend und angsteinflößend zugleich. Wunderschön und sexy gebaut,
aber dennoch eine Mischung aus Elfe und Vampir. Ja, das trifft es wahrscheinlich am
besten.

Jay schoss um die Ecke der 2nd Street und bog in die Lauderdale Road ein. Die
Geschäfte flogen nur so an ihm vorbei. Beinahe hätte er sogar eines dieser
Grandpa-Autos überholt, das auf 30 Meilen begrenzt war. Jerry der Hotdogverkäufer
winkte ihm im Vorbeihuschen zu. Doch Jay bemerkte ihn noch nicht einmal. Jetzt war
nur eines wichtig, nein Eine. Womöglich die Frau seiner Träume, ja die Frau seines
Lebens.

Jay hing seinen Gedanken nach, als plötzlich sein Vorderrad sich seltsam wie in Zeitlupe
anfing zu verformen. Ein grünes Stück dunklen Metalls bohrte sich durch seine Gabel.
Jay enthob es aus seinem Sattel und er begann zu schweben. Ein Zustand der ewig
anzuhalten schien. Wenig später fühlte er sich wie im Himmel. Zumindest sah er
genauso viele Sterne, wie es dort geben musste.

Irgendetwas rüttelte an ihm.

“Mein Gott Junge, geht es dir gut, nun sag’ doch was!”

Mr. Schindler, der Antiquar, hockte über ihn gelehnt und begann sanfte Ohrfeigen auf
dessen Wangen zu platzieren. Jay öffnete ein Auge und blinzelte.

“Was ist denn…?”

“Irgend so ein Schwein hat dich angefahren. Ist noch alles dran mein Junge?”

Mr. Schindler zog sein kariertes Jackett aus, um Jay besser aufhelfen zu können.

“Ich denke schon, sieht zumindest so aus.”

Jay war wie gelähmt, aber er hatte keine Schmerzen.

“Das ist der Schock mein Sohn. Komm, wir gehen jetzt erstmal zu mir rein und rufen die
Polizei.”

Einige Passanten hatten sich auf den umliegenden Gehsteigen versammelt und
tuschelten. Eine kleine dicke Frau mit ebenso kleinem dicken Hund in einer pinken
Bluse rief herüber, ob sie helfen könne. Mr. Schindler winkte ihr freundlich und sagte,
dass alles in Ordnung sei. Jay wurde im Antiquitätengeschäft, das genau gegenüber lag,
auf einem alten Polstersessel mit grünem muffigen Bezug gesetzt. Jay kannte das
Geschäft gut. Hier war er schon als Kind häufig mit seiner Mutter gewesen, als sein Vater
die Familie verlassen hatte. Damals war er 6. Mr. Schindler hatte den Jungen quasi
aufwachsen gesehen und war mit den Jahren ein guter Freund der Familie geworden.
Darum sorgte er sich um Jay, als wäre er sein eigen Fleisch und Blut.

“Autsch!”, etwas hatte Jay in den Allerwertesten gepiekst und er rückte etwas nach links.
Der alte Sessel mit dem grobporigen Stoff und den hölzernen Armlehnen hatte seine
beste Zeit wohl definitiv schon hinter sich. Jay fühlte sich etwas benommen. Seine
Gedanken taumelten. Wäre er jetzt aufgestanden, wäre er höchstwahrscheinlich gleich
wieder nach hinten in den Sessel gekippt.

“Hier, trink einen Schluck Jason!”, Mr. Schindler streckte ihm ein Glas Wasser entgegen.
Jay nippte daraus ein paar Schlucke und rieb sich über das Gesicht.

“Und sei vorsichtig, wenn du dich übergeben musst, dann bitte nicht auf den Sessel. Das
ist meine neueste Errungenschaft. Den habe ich einem alten Doc abgeluxt.”

Sein Blick wanderte zum Schaufenster, dass von alten Bücherregalen mit noch älteren
Büchern darin flankiert wurde. Durch das staubige Glas hindurch sah er die Reste seines
Bikes. Der Grandflower 3200 war nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Vordergabel
war verbogen, das Vorderrad fehlte ganz. Der gesamte Rahmen verschrammt und
mehrere Schweißnähte schienen aufgerissen.

Mr. Schindler verschwand kurz nach hinten, um die Polizei zu verständigen. Kurz dachte
er darüber nach, ob es nicht sinnvoller wäre, zuerst einen Krankenwagen zu rufen, da
Unfallopfer unter Schock häufig erst nach ein paar Stunden Schmerzen von ihren
Verletzungen bemerkten. Aber da es Jason einigermaßen gut zu gehen schien, wählte er
die 911. Die Leitung gab einen Dauerton von sich. Er versuchte es erneut und wählte die
9..1..

Mr. Schindler bemerkte wie es nass wurde auf seinem Rücken. Ein kalter und zugleich
warmer Schauer überkam ihn und er kippte nach vorne über, genau auf das Telefon.
Jason zog den alten Nazidolch aus dem Rücken des Antiquars wie aus einem Stück
Butter, wischte ihn ab und hing ihn zurück an die Wand. Er taumelte nach draußen,
schüttelte sich und blickte in die tiefstehende spätsommerliche Sonne. Ein angenehmes
Kribbeln durchwanderte seinen Bauch. Er fühlte sich auf einmal großartig. Doch was tat
er hier? Er blickte sich um, konnte sich aber nicht erinnern. Sein Fahrrad war kaputt. Und wie es kaputt war. Er musste gestürzt sein. Die Passanten, die den Unfall beobachtet
hatten, waren indes bereits wieder weiter gegangen. Der Großteil von ihnen kannte Mr.
Schindler persönlich und der Rest grüßte ihn zumindest, wenn sie ihm in der Stadt
begegneten. In einer so kleinen Stadt wie Little Richmond kannte man sich eben. Und
man vertraute sich. Wenn Mr. Schindler sagte, es sei alles in Ordnung und er kümmere
sich darum, dann würde er das auch tun und es gäbe keinen weiteren Grund zur
Besorgnis.

Jay ging nach Hause. Sein Rad schob er neben sich her ohne eine Miene zu verziehen. Er
hatte keinerlei Schmerzen. Aber seine Hose war verschrammt und an seinem Shirt
klebte Blut.

Das Wochenende plätscherte so vor sich hin. Es war Zeit zum Frühstücken an diesem
wunderschönen Sonntagmorgen. Auf der Terrasse war bereits ein herrliches Aufgebot an
frischem Toast und frisch gepresstem Orangensaft arrangiert worden. Jays Mutter saß
am Tisch und rümpfte die Nase. Ihr Kopf steckte in der Wochenendausgabe der Little
Richnews.

“Am 16. Oktober ereignete sich in der Lauderdale Road 28 ein grausames Verbrechen.
Der 66-jährige Inhaber des GoodOldBookstore wurde am frühen Abend von einer
Kundin erstochen aufgefunden. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um einen
Raubmord handelt. Allerdings wurde der Täter offenbar gestört und entkam ohne
Beute.”

Schnell legte Esmeralda die Zeitung beiseite und verdrückte eine kleine Träne aus ihrem
linken Auge. Sie wollte ihrem Sohn diese fürchterliche Nachricht am Wochenende
ersparen. Er würde es ohnehin früh genug erfahren. Mr. Schindler, dachte sie, der arme
alte Mann.

Am nächsten Montag in der Schule würdigte sie ihm keines Blickes. Schnustracks
stolzierte Melinda an Jason vorbei ohne mit der Wimper zu zucken. Jay verstand die
Welt nicht mehr. Hatten sie nicht vergangene Woche geplant, ins Kino zu gehen? Gerne
hätte er ihr gesagt, dass ihm ein paar Stunden fehlten, seit er diesen Unfall hatte. Aber
würde sie ihm glauben? War sie deshalb sauer auf ihn? Seine Mutter wusste nicht, wo er
an besagtem Tag hinfuhr. Er meinte nur, er treffe sich mit einem Freund. Und was, wenn
Melinda dieser Freund gewesen ist? Um Gottes Willen, das würde alles zunichte machen.
Sein Herz begann zu schlagen. Eine Hand erschien auf Jays Schulter.

“Jay Jay, alter Haudegen, was läuft?”

“Alter Haudegen? Aus welchem Jahrhundert bist du denn bitte ausgebrochen?”

“Sorry Alter, aber man muss die Traditionen aufrecht erhalten, du weißt schon.”

“Ein bisschen weniger Gras würde dir manchmal ganz gut tun, was?”

“Ist klar ja, hast du schon von dem alten Schindler gehört?”

“Ist mir schon zu Ohren gekommen, ja.”

“Und weißt du auch schon von dem, was sie in seinem Keller gefunden haben?”

“Nein, was denn?”

“Na, mal eben ein paar Knochen.”

“Ja und, was ist schon dabei?”

“Jaja, da hast du schon recht. Es wär natürlich nichts dabei, wenn es nicht
Kinderknochen gewesen wären.”

“Was zur Hölle?”

“Man geht davon aus, dass es sich um vermisste Kinder handelt, die bereits vor 20
Jahren entführt wurden. Zumindest läge das das Alter der Knochen nahe.”

“Das kann ich mir beim besten Willen bei dem alten Kauz nicht vorstellen. Und von wem
hast du bitte diese brandheißen Infos?”

“Hab heimlich den Bericht von meinem Dad gelesen. Der lag da so mutterseelenallein
auf seinem Schreibtisch und…”

“Ja herrlich, der Sohnemann vom Sheriff kann es einfach nicht lassen.”

Die Glocke zur 3. Stunde bimmelte. Man verabschiedete sich auf coole Art und Weise mit
einem dreifach gedrehten und einmal gefausteten Handschlag, eine Choreographie, für
die es ein paar Tage benötigt hatte, bis sie flüssig saß.

Es stellte sich heraus, dass offenbar Mr. Schindler tatsächlich der lang gesuchte
Sexualstraftäter einer Gemeinde war, die etwa 200 Meilen entfernt lag. Offenbar hatte er
zuletzt vor 20 Jahren einige Mädchen im Alter zwischen 7 und 10 Jahren entführt, sie
vergewaltigt, ermordet und dann in seinem Keller vergraben. Bis jetzt fand man
Knochen, die man 3 unterschiedlichen Kindern zuordnen konnte. Niemand hätte das
dem netten Mr. Schindler zugetraut. Und offenbar hatte er schon lange Zeit nicht mehr
gemordet. Zumindest fand man noch keinen Beleg dafür. Jay kannte den älteren Herren
gut, da er schon lange mit seiner Mom befreundet war. Dennoch hielt er ihn schon
immer für einen merkwürdigen Kauz. Er spuckte beim Reden und ging immer leicht
gebückt.

Da hat es wohl mal den richtigen getroffen – hörte man die Leute sagen. Und Jay
stimmte dem zu. Nur seine Mutter tat ihm Leid. Sie schien die darauffolgenden Tage
sehr bedrückt und redete für ihre Verhältnisse erstaunlich wenig. Und schon gar nicht
über den Kindermörder von Little Richmond, wie jetzt auch schon die überregionale
Presse titelte. Zumindest las Jay darüber bei Facebook, weil wieder irgendjemand
irgendeinen Link geteilt hatte.

Immer mehr grauenhafte Details wurden veröffentlicht. Offenbar hatte ein findiger
Reporter alte Akten ausgegraben und verwendete nun nach und nach jedes blutrünstige
Detail. Auflage, Auflage, Auflage. Das war es, was die Käseblätter diesseits und jenseits
des Mississippi interessierte, dachte Jay. Es war die Rede von einem Mann in den 90ern,
der kleine Kinder aus seinem Pickup heraus zu sich ins Auto einlud. Er lockte sie mit
seinem Streichelzoo – wie er es nannte. Allerdings hatte der in Little Richmond als Mr.
Schindler bekannte Mann nie eine Farm oder gar Tiere besessen. Einige Kinder
berichteten ihren Eltern von diesem eigenartigen Typen. Doch niemand konnte sich
vorstellen, dass er so weit gehen würde. Als zunehmend Kinder verschwanden, ging die
Polizei der Sache nach. Konnte dem mit bürgerlichem Namen Winfried Jackson
heißenden, damals 45-jährigen, aber nichts nachweisen. Ein paar Jahre später zog er fort
und wurde dort nie mehr gesehen. Bis er dann eines schönen Tages in Little Richmond,
einer 5000 Seelengemeinde im Süden der USA, auftauchte. Meinem Little Richmond,
ergänze sich Jay und seine Gedanken.

Nachdem bekannt wurde, was Mr. Schindler, oder auch Mr. Jackson, getan hatte, wollte
niemand mehr von ihm und seinen Antiquitäten hören. Selbst die Zwangsversteigerung
seiner Habseligkeiten brachte keinen nennenswerten Erfolg. Der Eigentümer des Ladens
hatte auf diese Art gehofft, die letzte Miete, welche Mr. Schindler noch säumig geblieben
war, zu amortisieren.

Die Jahre vergingen wie im Flug. Jay war nun auf dem College. Irgendwie hatte er es
geschafft, alle Prüfungen mit einem herausragendem Ergebnis zu meistern. Nur die
wirklich wichtigen, versteht sich. Für die übrigen blätterte er einmal durch die Hefter,
was meist für ein C oder sogar ein B- genügte. Seine Mutter war perplex und konnte die
plötzliche Leistungssteigerung nicht nachvollziehen.

Jay schulterte schnell seinen Rucksack, um zu einer Besprechung mit Professor Ashcroft
nicht schon wieder zu spät zu kommen. Mit langen Schritten hastete er über den
Campus. Die Blätter der Bäume hatten sich in diesem frühen Herbst bereits begonnen zu
verfärben und statteten die Erde mit orangenen und roten Tupfen aus. Von oben hätte
das ganze wie ein Gemälde von Jackson Pollock ausgesehen.

Beim Professor angekommen klopfte Jay völlig außer Atem an der Tür. Dabei öffenete
sie sich quietschend zu einem Spalt.

“Komm rein Jason, die Tür ist offen!”, schallte es von drinnen.

“Und du bist schon wieder zu spät mein Sohn.”

Jay schaute auf die Uhr und musste feststellen, dass Professor Ashcroft recht hatte. Es
hatte bereits 3 Uhr nachmittags geschlagen. Eigentlich hätte er bereits vor 30 Minuten
da sein müssen. Komisch. Er war sich sicher, pünktlich genug losgegangen zu sein.
Dunkle Haarsträhnen klebten in seinem Gesicht. Er war total verschwitzt. Im
Arbeitszimmer des Professors, in dem er hauptsächlich Klausuren korrigierte und
Studenten zu eben solchen Nachhilfestunden empfing, herrschte eine althistorische
Atmosphäre. Das Zimmer war voll von Gründerzeitmöbeln. Dunkle schwere Stoffe
hingen als Gardinen vor den Fenstern. Eichenvertäfelungen zierten die Wände. Fehlte
nur noch eine Alte Globusbar, so eine zum Aufklappen. Aber die hatte der alte
Volkswirtschaftsprediger bestimmt auch irgendwo versteckt.

Nicht, dass Jay so etwas wie Nachhilfe nötig gehabt hätte. Aber es geziemte sich, und das
begriff Jay sehr schnell, immer einmal öfter beim Professor um Rat zu suchen. Somit
bekundete man Interesse am gelehrten Stoff, erhielt hier und da wertvolle Tipps zu
anstehenden Prüfungen und wurde auch mit einem gewissen positiven Merkzettel im
Kopf des Professors versehen. So stellte Jay sich das zumindest vor.

“Setz dich doch mein Junge.”

Ihr Verhältnis war in den vergangenen Semestern zu einem fast familiären gereift. Jay
grinste verschmitzt und betrachtete die alten Stoffsessel. Einer von denen kam ihm
bekannt vor und sein Blick blieb daran kleben.

“Gefällt er dir? Meine neueste Errungenschaft, aus einem kleinen Nest hier in der Nähe.
Irgendetwas mit Little sowieso.”

Little Richmond führte Jason den Satz in seinem Kopf zu Ende.

Er setzte sich auf das ihm sehr vertraute Sitzmobiliar und legte ein Bein lässig über das
andere. Seinen Ordner brauchte er nicht hervor zu kramen, Jay hatte alles im Kopf. Den
gesamten Stoff der vergangenen und sogar einiger noch kommender Semester. Seit
seiner Schulzeit hatte sein Verstand absonderliche Sprünge gemacht. Man konnte fast
sagen, er hatte ein fotografisches Gedächtnis. Jay brauchte nur ein oder maximal
zweimal etwas lesen und behielt es sofort zum Großteil in seinem Denklappen. Der
Professor begann etwas in seinen Bart zu murmeln. Jay lehnte sich leicht zurück, als ihn
etwas in die linke Pobacke piekste. Schnell verlagerte er das Gewicht. Die alte
Sprungfeder hatte ihn doch schon einmal massakriert, fiel ihm ein. Danach gab es dann
aber ein Loch in seiner Erinnerung. Ein eben solches Loch, wie es seitdem des Öfteren
seinen Verstand durchschnitt.

“Jason, hast du von dem erschreckenden Vorfall mit einer unserer Studentinnen in der
letzten Woche gehört?”

Der Campus war groß, beinahe eine Stadt. Nein, er war eine Stadt. Zumindest gemessen
an der Anzahl von Leuten, die hier tagein tagaus dem Studieren, Lehren oder was auch
immer nachgingen. Ganz zu schweigen vom logistisch notwendigen Verwaltungs-,
Reinigungs- und Sicherheitspersonal. Und dann waren da ja noch das Unirestaurant, die
Unikneipe, die Bücherei und all das. Alles war mit ausreichend Personal bestückt. Zählte
man all diese Menschen zusammen, käme man bestimmt auf die doppelte
Einwohnerzahl von Little Richmond, dachte sich Jay. Dennoch hörte man natürlich
solche Sachen. Auch wenn dies hier so groß wie eine Stadt war. Solche Dinge
verbreiteten sich wie ein sprichwörtliches Lauffeuer. Die 21-jährige Taylor Metthews war
am vergangenen Dienstag verschwunden. Heute war wieder Dienstag. Man hatte sie ein
paar Tage später, am Freitag, auf der Schultoilette aufgefunden. Ihr lebloser Körper saß
auf dem Herrenklo auf einer Toilette. In ihrem Mund steckte ein Kondom. Ob es benutzt
wurde oder nicht, war der Gerüchteküche nicht bekannt. Zumindest noch nicht.

Ein widerwärtiges Bild musste das junge Mädchen abgegeben haben. In ihren Ohren
steckten je links und rechts ein Messer. Beide stammten aus der Kantine. So erzählte
man sich. Diese waren allerdings bekanntlich so stumpf, dass man nicht mal, selbst
wenn man es gewollt hätte, jemanden hätte damit verletzen können. Der Täter musste
sie also mit brutalster Energie in den Kopf der bildhübschen, gertenschlanken Brünetten
gerammt haben. Jay ekelte sich zwar vor dem Bild, dass diese Greueltat in seinem Kopf
hinterließ, fand die Tat an sich jedoch eher interessant und eigentlich nur oberflächlich
abstoßend. Ein kalter Schweißtropfen rann über seinen Rücken und jagte einen Schauer
hinter sich her.

“Ein grausames Schauspiel, was ich so noch nie erlebt habe und hoffentlich auch nie
wieder miterleben muss.”, fuhr Professor Ashcroft schmallippig fort.

Am nächsten Morgen wachte Jay schweißgebadet in seinem Bett auf und warf sich wie in
Trance von links nach rechts. Wo war er? Er blinzelte und versuchte die Umgebung zu
erfassen. Alles war ihm fremd, er fühlte sich, als läge er falsch herum im Bett, obwohl
alles seine Richtigkeit hatte. Langsam bekamen die Schatten um ihn herum Umrisse und
schließlich scharfe Kanten. Als dann auch noch die Dreidimensionalität der Gegenstände
in seinem Zimmer zurückkehrte, stand Jay langsam auf. Was war passiert? Er war beim
Professor zu einer der wöchentlich üblichen Vorlesungsbesprechungen. Das wusste er
noch. Danach war alles einmal mehr wie abgeschnitten. Sein Kopf dröhnte, als ob
jemand ein Messer quer hindurch gezogen hätte. Ein stumpfes Messer. Eines aus der
hiesigen Kantine.

Jay bewegte seine Gardine und wurde umgehend vom hellen Sonnenlicht geblendet. Er
musste die Augen umgehend wieder schließen, da er sonst befürchtete, zu erblinden. Am
anderen Ende des Campus vernahm er nach ein paar Sekunden Blaulichter. Sie blinkten
in einem merkwürdigen Wechselspiel mal synchron und dann wieder wild
durcheinander. Was war dort geschehen?

Es klopfte an der Tür.

“Scheiße, Jayson, hast du schon gehört?”

Ungegfragt betrat Martin, den alle nur Shorty nannten, den Raum.

“Verdammt Alter…”, er musste Luft holen.

“Jemand hat den alten Ashcroft zur Strecke gebracht.”

Jason zuckte zusammen und wusste nicht, wie er einen seiner Gedanken in eine
geordnete Bahn lenken sollte.

“Gestern Abend muss es geschehen sein, so genau wissen das die Cops noch nicht. Die
Putzfrau fand ihn heute früh mit einem seiner alten Brieföffner im Rücken kopfüber auf
seinem Schreibtisch. Scheiße, das ist keine geile Art um abzutreten. Ich werde meinen
Vater anrufen. So langsam nerven die Morde an dieser scheiß Uni. Scheiße Mann.”, sagte
er und verschwand genauso unangekündigt wie er gekommen war.

War ich es, der gestern zuletzt bei ihm war? Ich war gegen 3 bei ihm, aber war ich
tatsächlich bis zum Abend da? Unwahrscheinlich. Jay konnte sich an nichts, was nach 3
Uhr passierte, erinnern und das machte ihm noch mehr Kopfschmerzen.

Da ein Cousin des dahingeschiedenen Professors beim FBI beschäftigt war, wurde das
ganze Zimmer des ehemaligen Volkswirtschaftlers auf den Kopf gestellt. Eifrige Beamte
in schwarzen Bomberjacken mit grellgelben Lettern darauf gaben sich alle Mühe, die
alten Habseligkeiten des Professors aufs genaueste zu untersuchen. Dabei zerschnitten
sie Kissen, Bezüge und stemmten sogar vereinzelt Holzplatten an der Wand auf. In
einem alten Sessel mit grobem grünen Stoffbezug und hölzernen Lehnen wurde man
schließlich fündig. Alte Spritzen befanden sich darin. Alle waren fein säuberlich jeweils
in einen Ledersack gehüllt. Eine hatte jedoch den ledernen Mantel durchstochen und
ragte nach oben in Richtung desjenigen, der auf dem Stuhl Platz nahm. Die uralten
Glasspritzen mit riesiger Kanüle waren mit einer trübbraunen Flüssigkeit gefüllt.
“Stopp!”, rief einer der Beamten als er die ärztlichen Folterinstrumente entdeckte und
eine von diesen ihn unbemerkt in die linke Hand zwischen Handschuh und Jackensaum
stach.

“Nichts mehr anfassen Leute, hier muss der Seuchenschutz ran. Ich habe nämlich keine
Lust, mir aus irgendwelchen alten Spritzen irgendwelche uralten Krankheiten
einzufangen.”

Die übrigen FBI-Leute nickten zustimmend und freuten sich insgeheim über die
unverhoffte Pause. Während einige sich draußen ihrer Einsatzweste entledigten und
genüsslich eine Zigarette dampften, traf wenig später ein Quartett aus in Folie
Gekleideten ein.

Kampfmittelanzüge und Schutzmasken gehörten ebenso zu deren Ausstattung wie ein
Koffer mit allerlei Mess- und Prüfutensilien. Man stellte fest, es handelte sich tatsächlich
um eine unter Umständen gefährliche Substanz in den Spritzen. Diese wurde zur
näheren Untersuchung unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen ins Labor des
Seuchenschutzes verbracht.

Dr. Augustin, der Leiter der Behörde für Seuchenschutz, hielt höchstpersönlich seinen
Riecher ans Mikroskop, um diesen noch unbekannten Erregerstamm zu untersuchen.
Noch niemand hatte solche Bakterienstämme gesehen. Führte man ihnen UV-Strahlung
zu, begannen sie, sich gegenseitig aufzufressen. Hielt man sie von Licht fern, fielen sie in
eine Art Starre, vergleichbar mit einem Winterschlaf. Gleiche Auswirkungen hatte es,
wenn man ihnen Wärme zuführte. Etwa 36- 37 Grad Celsius genügten, was rein zufällig
der menschlichen Körpertemperatur entsprach. Doch es wurde noch obskurer. Dr.
Augustin unternahm in den kommenden Tagen zusammen mit seinen immer in weiß
gekleideten Kollegen viele Versuche. So entdeckte man etwa, dass der Erreger zwar
menschliches Gewebe angriff, aber nicht jedes beliebige. Lediglich Hirnzellen wurden
angefallen und zerfressen. Die Experten grübelten und schlugen sich die Nächte um die
Ohren, ohne zu einem nennenswerten Ergebnis zu gelangen. Man dachte darüber nach,
Tierversuche mit dem Erreger durchzuführen. Aus Mangel an öffentlichem Interesse und
dem damit verbundenen Mittelfreigaben der Regierung wurde die Forschung jedoch
nach wenigen Wochen wieder eingestellt.

Die Polizei tappte im Dunkeln. Am Brieföffner, welcher als mörderische Tatwaffe im
Rücken des Professors gesteckt hatte, waren keine Fingerabdrücke festzustellen. Auch
jegliche Form von DNA war nicht daran anhaftend. Das Zimmer jedoch wimmelte von
Doppelhelixen der hier ein und ausgegangenen Studenten, Putzfrauen, und wer weiß,
wer hier noch alles verkehrte. Damit konnten sich die Ermittler auch keinen Reim
bilden. Es gab kein Motiv. Professor Ashcroft war bei allen beliebt und hatte keine
Feinde, er schuldete niemandem auch nur einen Cent und drückte sich in seiner Freizeit
auch nicht in dunklen Spieler- oder Rotlichtetablissements herum. Man schloss daraus,
dass es sich nur um eine Tat aus dem Affekt heraus handeln konnte. Etwa um einen
Studenten, der unzufrieden mit einem Prüfungsergebnis war und auf diese Weise Rache
nehmen wollte. Es konnte jedoch kein direkt Tatverdächtiger ermittelt werden. Zwar
befragte man stichprobenartig einige Kurs- und Seminarteilnehmer des Professors,
jedoch hatte keiner aktuell mit herausragend schlechten Ergebnissen zu kämpfen. Auch
hatten die meisten der Befragten ein stichhaltiges Alibi oder man konnte ihnen keine
direkte Beteiligung nachweisen.

Einige Wochen darauf, es war indes der Winter eingekehrt, häuften sich die Fälle von
unerklärlichen Morden in der näheren Umgebung. Noch dazu einer grausamer als der
andere. Mal wurde eine ältere Dame mit ihrem Hund zusammen lebendig in einem
Müllsack ertränkt, mal eine junge Frau mit einer Glasplatte und einem schweren
Gewicht darauf in ihrer eigenen Badewanne.

Bill Morres, der FBI-Haudrauf alter Schule, schaute in den Spiegel und betrachtete seine
blutunterlaufenen Augen. Er war so etwas wie der Rammbock seiner Einheit. Den, den
man rief, wenn ein Dutzend Bewaffnete Drogenjunkies auf der anderen Seite der Tür
warteten. Nichts und niemand hatte ihn in den vergangenen 8 Jahren jemals aufhalten
können. Doch seit dem Vorfall mit dem Collegeprofessor fühlte er sich irgendwie krank.
Er hatte das Gefühl, seinen Körper zeitweise nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Als er
sich dann auch noch beim Rasieren schnitt und das Blut in das halb gefüllte
Waschbecken unter ihm tropfte, verdrehten sich seine Augen nach hinten und er sackte
zusammen. Kleine Blutstropfen bildeten psychedelische Muster, die an Batiktücher
erinnerten, als sie sich im Nass verteilten und langsam aber sicher verdünnten und
aufzulösen schienen. Doch das war nur der Anschein. Der Erregerstamm hatte sich im
Körper von Bill Morres erstaunlich wohl gefühlt. Seine Körpertemperatur hatte zu einem
exponentiellen Wachstum der Bakterienstämme geführt. Diese waren nun in hoher Zahl
in Bills Blut vorhanden. Und nun auch im Wasser, das langsam an dem nur leicht
undichten Stöpsel des Waschbeckens hinab in die Abgründe der Kanalisation floss.

“Jason mein Sohn? Kannst du mich hören?”, die Leitung knackte etwas.

“Ja Mom, ich höre dich.”, antwortete Jay.

“Ich weiß nicht, ob du mitbekommen hast, was hier passiert. Ich traue mich momentan
noch nicht einmal mehr vor die Tür. Immer wieder wird von irgendwelchen
willkürlichen Morden auf offener Straße berichtet. Geht es dir gut mein Junge? Wo bist
du gerade?”

“Keine Sorge Mom, sie haben das Unigelände hermetisch abgeriegelt. Hier kommt
keiner rein oder raus. Es wurden Sicherheitsschleusen im Inneren errichtet. Sie
untersuchen jeden, der sich zwischen den Fakultäten und Wohnheimen hin und her
bewegen möchte. Sie messen die Körpertemperatur. Anscheinend ist Fieber ein Zeichen,
dass man es hat.”

“Sei bitte vorsichtig mein Junge, ich möchte dich nicht auch noch verlieren, wie deinen
Vater vor 5 Jahren.”, sie zuckte zusammen, denn sie wusste was sie angerichtet hatte.

“Wieso vor 5 Jahren? Dad hat uns doch schon im Stich gelassen, als ich 6 war.”

“Es tut mir Leid mein Sohn, aber ich muss dir etwas sagen.” Im gleichen Moment kratzte
es an ihrer Tür.

“Da sind irgendwelche Leute draußen, die versuchen hier rein zu kommen.”, schrie Jays
Mutter in den Hörer. Ihre Stimme war verzweifelt und außer sich vor Angst. Sie
versuchte sich zu beruhigen und nahm den Hörer dichter ans Ohr.

“Dein Nachname ist eigentlich Jackson…”, danach wurde die Leitung unterbrochen.

Eine schreiende Person rannte über den Campus. In der Hand hielt sie einen
Absperrpfosten. Damit schlug sie jeden bewusstlos, der sich versuchte ihr zu nähern.
Jason konnte nicht erkennen, ob die Person männlich oder weiblich war und es war ihm
in diesem Moment auch egal. Er war ein Jackson. Das konnte nur bedeuten, dass Mr.
Schindler… nein, das konnte unmöglich sein.

Tim Pinder