Jugendhof Heidequell

1931 gründete der Ortsverband für Innere Mission Bielefeld den Heidequell als Einrichtung des freiwilligen Arbeitsdienstes durch den Bau eines Barackenlagers im Wald und machten den Boden für landwirtschaftliche Zwecke nutzbar. Die lippische Landesregierung plante nach dem Verbot der kirchlichen Arbeitsdienste 1933 zunächst, im Heidequell ein „Schutzhaftlager“ einzurichten, dessen Vorhaben jedoch verworfen wurde, der Heidequell blieb in der Trägerschaft des Ortsverbandes mit verschiedener Nutzung. Während des Zweiten Weltkriegs waren im Heidequell überwiegend alte Menschen untergebracht, später heimat- und elternlose Flüchtlingskinder, die man nicht in Familienpflegestellen vermitteln konnte. Das Heidequell diente fortan als „Dauerkinderheim“. Nach Ende des Krieges führte man das Konzept ein, junge Menschen mit alten zusammenzuführen. Dafür richtete man 90 simple Plätze ein.

Die Baracken auf dem Gelände wurden konsequent strukturiert aufgeteilt. Während die Kinder in großen Schlafräumen für je 25 Personen ohne Sanitäranlagen untergebracht waren – diese mussten für ihre Notdurft sogenannte „Wald-Klos“ nutzen – wohnten die alten Männer in einer Baracke mit zwei Schlafsälen sowie einem Wohnraum samt Badewanne und Kohlefeuerung. Bildungstechnisch formten die Kleinkinder in einem Nebenhaus eine Gruppe unter der Leitung einer Kindergärtnerin, die schulpflichtigen Kinder besuchten die Heimschule – ebenfalls ein Barackengebäude, bestehend aus einem Schulraum, aber mit dem Status einer Volksschule. Hier unterrichteten zwei von der Schulbehörde entsandte Lehrer die 1. bis 8. Klasse. Abgerundet wurde die Infrastruktur des Heidequell durch einen landwirtschaftlichen Betrieb, den man aktiv bewirtschaftete. Nach der Währungsreform entstand ein Neubau, das sogenannte Haupthaus, welches noch heute an seinem Platz präsent ist und im Schlafsaal etwa 40 Kinder aufnehmen konnte. Es verfügte zudem über eine Küche, einen Speisesaal und einen Aufenthaltsraum – im Keller befanden sich die sanitären Anlagen.

1949 wurden die Baracken auf dem Gelände für die Unterbringung von Kindern vom Düsseldorfer Sozialministerium als unzureichend eingestuft, da in der Nachkriegszeit aufgrund einer großen Nachfrage an Heimplätzen konsequent eine Überbelegung herrschte – auch im Heidequell. Also folgte kurzerhand seitens der Heimleitung der Wunsch nach einer Erweiterung. Überschattet wurden die Planungen 1950 durch den Vorwurf eines Lehrlings gegenüber des Heimleiters, missbraucht worden zu sein. Letzterer musste sein Hausvateramt mit sofortiger Wirkung niederlegen, unterzeichnen, nie wieder in der Erziehungsarbeit oder in Häusern der Inneren Mission tätig zu sein und wurde zusätzlich aus der Bruderschaft ausgeschlossen.

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In den Folgejahren bis 1952 gab es aus Düsseldorf vom Ministerium immer wieder Bemängelungen am teilweise provisorisch errichteten und betriebenen Kinderheim. Weiter wurde die Heimleitung aufgefordert mehr ausgebildetes Personal einzustellen. Erstere kämpfte mit aller Kraft um die Erweiterung bzw. Modernisierung des Heidequells. Somit wurde immer wieder mit dem Landesjugendamt und dem Sozialministerium wegen der zukünftigen Nutzung der Einrichtung verhandelt, da diese wichtige Partner im Bezug auf Belegung und Finanzierung waren. 1955 legte der Leiter der Bau- und Finanzierungsabteilung im Johanneswerk den Mitgliedern des Vereins Volkslesehalle ein Bauprogramm vor, das eine „zweigleisige“ Nutzung des Heidequells für 60 Kinder und 60 schulentlassene Jugendliche sowie Werkstätten vorsah. Nachdem die Mitgliederversammlung nach vorherigen Unstimmigkeiten dem Antrag zustimmte, löste die Heimleitung des Heidequells das Altenheim auf und belegte die frei gewordene Baracke bereits mit Jugendlichen.

Jugendhof Heidequell Lageplan. Foto: privat
Jugendhof Heidequell Lageplan. Foto: privat

1956 weihte man die ersten Vierbettzimmer-Pavillons ein, sogenannte eingeschossige Häuser mit einer einfachen Unterbringung und Versorgungscharakter sowie Waschraum mit zwei Duschen und einem Tagesraum. Platz hatte man nun in den verschiedenen Häusern für 40 Jugendliche in den Neubauten, 70 Kinder im Haupthaus und in den Baracken sowie eine Baracke mit 16 Betten für Notfallbelegungen. Doch so ehrgeizig die Idee der Erweiterung auch war, so viele neue Probleme kamen auf das Heidequell zu. Eintretender Verfall der Altgebäude, fehlende Tagesstruktur für die Kinder und mangelhafte Beschäftigungsmöglichkeiten deuteten auf einen Missstand hin. Briefe an die Behörden in Düsseldorf, in denen man diese Missstände detailliert schilderte, wurden zwar beantwortet, aber im Detail unerhört. Auch die fehlenden Qualifikationen der Bediensteten sorgten für eine negative Sichtweise der Gesamtsituation. Während die Plätze für Jugendliche ständig belegt waren, sanken die Zahlen der Schulkinder. Hinzu kam, das anders als geplant, die Jugendlichen nicht im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe, sondern zur Fürsorgeerziehung im Heidequell einquartiert wurden – diese hatten gestohlen, waren arbeitsscheu, verwahrlost oder durch herumstreunern aufgefallen. Zudem kam es zu Vorwürfen von sexuellen Handlungen und Übergriffen zwischen Heimleiter und Jugendlichen, die zur Entlassung von Selbigem führten. Auch zu sexuellen Übergriffen von Jungen auf zufällig angetroffene Mädchen sowie der Jugendlichen untereinander soll es laut Aufzeichnungen gekommen sein.

1958 veranlasste das Johanneswerk auf die Beschwerden des Heimleiters mehrere Instandsetzungsmaßnahmen, schaffte durch eine Pachtung des Ludwigshofes eine Tischlerei und konnte so konstante Arbeitsmöglichkeiten ermöglichen. Man schrieb an mehrere Wohlfahrtsschulen und an das psychologische Institut der Universität Berlin, um Praktikanten für den Erziehungsdienst zu gewinnen, allerdings erfolglos. Ende der 50er Jahre spitzte sich die Gesamtsituation im Heidequell trotz einiger attraktiver Planungen dramatisch zu. Nur noch 25 Kinder lebten in der Baracke, die in einem so schlechten Zustand war, das selbst der Detmolder Regierungspräsident ein Scheiben an die Heimleitung schickte, in dem er Gleiches bemängelte. Somit war die Zukunft des Kinderheims so ungewiss, dass man mit dem Gedanken spielte, die Kinder nach Grünau zu verlegen. Währenddessen gingen die Neubauarbeiten, die verbindlich geplant waren, konsequent voran.

1959 überschatteten einige Vorfälle den Alltag im Heidequell aufs Neue. Kinderheim und Schule wurden geschlossen, die Belegung der Pavillons mit Jugendlichen wurde allerdings gewährleistet, um die Existenz des Heidequells zu sichern. Kurz darauf schilderte ein Jugendlicher bei der Bielefelder Polizei brutale Erziehungsmethoden. Von massiver körperlicher und physischer Gewalt war die Rede in der Aussage des Beschuldigenden. Zwei beschuldigte „Erzieher“ gaben ihre Taten in Teilen zu, das Landesjugendamt versuchte, durch „Deckung“ der Beschuldigten gegenüber der Staatsanwaltschaft eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen. Kurze Zeit später erhärteten sich auch Vorwürfe gegen den amtierenden Heimleiter im Heidequell, der diese allerdings abstritt. Weitere Beschwerden bezogen sich auf das Essen, das verdreckte Geschirr, schmutzige Kleidung und das Scheren der Köpfe. Übermittelt wurden diese Beschwerden von der Detmolder Staatsanwaltschaft. Später wurden sogenannte Strafbücher eingeführt, die ab und an vom Landesjugendamt durchgesehen und unterzeichnet wurden.

1960 waren die ersten neuen Gebäude fertiggestellt, man plante fortan einen Neuanfang. Das Johanneswerk war um die Beseitigung des schlechten Rufes bemüht und lud 1961 einige Leiter von Jugendämtern sowie Jugendrichter nach Oerlinghausen ein, um ein besserers Verhältnis herzustellen. 90 neue Plätze kamen als „Heidequell II“ auf dem Gelände dazu – Heidequell I bestand aus dem Haupthaus und den Pavillons – neue Erzieher, Erzieherhelfer und ein Praktikant wurden beschäftigt, es gab mehr Platz, überschaubarere Gruppen und einen deutlichen Wandel der Qualität. Auch in der Freizeit wurden Jugendlichen viel abwechslungsreiche Tätigkeiten geboten. Der Heidequell wurde 1964 als moderner Heimbetrieb in der Hauszeitschrift des Johanneswerks bezeichnet. In den 60er Jahren gab es mehrere Leitungswechsel. Ab 1965 wurden die Abläufe und Lehrprozesse von Experten wissenschaftlich begleitet und die Ergebnisse in Vorträgen präsentiert. Das Landesjugendamt beurteilte den Heidequell nun deutlich positiver.

Nachdem der ältere Heidequell I stark überbelegt war, baute man 1968/69 einen dritten Pavillon – beide Geländeteile unterschieden sich aber dennoch enorm von der Raumausstattung. Man verkleinerte die Gruppen, um die Lehrqualität und die persönliche Beaufsichtigung zu steigern. Nicht mehr schulpflichtige Jugendliche konnten fortan mit einer Berufsausbildung beginnen, verließen dafür sogar das Gelände, um in den umliegenden Betrieben zu arbeiten. Zu dieser Zeit war es für das Johanneswerk durchaus selbstverständlich, dass die Auszubildenden durch ihre Arbeit an der Finanzierung des Heimbetriebes beitrugen. Viele Projekte im Heidequell waren Pionierprojekte, bei denen die Erfahrung bei der Umsetzung in der Praxis kam. 1961 bemängelte das Landesjugendamt, das aus ihrer Sicht die Jugendlichen unqualifizierte, schlecht bezahlte Arbeit leisten müssten und das entgegen der Absprache keine Lehrverträge abgeschlossen würden. Vorschläge zu einem gerechten Lohnsystem und einer Sozialversicherung wurden laut. 1969 verknüpfte man Therapie und Rentabilität des Heimes – doch noch immer war es kaum möglich, Jugendliche in Lehrstellen oder geeignete Arbeitsplätze zu vermitteln, da die Schule meistens nach dem 6. oder 7. Volksschuljahr verlassen wurde. Die hauseigenen Ausbildungsplätze waren durch eigene Jugendliche aus Heidequell II besetzt.

1970 wurden die industriellen Fertigungsarbeiten und die heimeigene Landwirtschaft im Rahmen von Umstrukturierungen aufgegeben und für den gepachteten Ludwigshof ein Unterpächter gefunden. Das Landesjugendamt kündigte in einem Rundschreiben 1971 die Umstellung des Taschengeld/Prämien-Systems auf eine Ausbildungs- und Arbeitsvergütung an. Mitte 1970 sollte das Kinderheim Waldheimat in Rönsahl in den Heidequell verlegt werden, da man dort keine fachlich qualifizierten Mitarbeiter gewinnen konnte. Fortan führte man Heidequell I und II getrennt und reduzierte die Belegung deutlich. Durch die Erziehungsmethoden und dynamischen Bildungsangebote wurde der Heidequell 1972 in der Öffentlichkeit und Fachwelt positiv wahrgenommen. Nach der Kündigung des amtierenden Heimleiters Ende 1972 kam es erneut zu Turbulenzen zwischen Heidequell und Johanneswerk, die bis Mitte 1973 andauerten. Infolge dessen verließen eine Reihe weiterer Mitarbeiter den Heidequell.

Quelle: Ev. Johanneswerk, Dokumentation „Der Jugendhof Heidequell in Oerlinghausen (1947-1973)“, privat

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Dokument erstellt am 29.06.2012
Letzte Änderung am 29.04.2014

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André Winternitz, Jahrgang 1977, ist freier Journalist und Redakteur, lebt und arbeitet in Schloß Holte-Stukenbrock. Neben der Verantwortung für das Onlinemagazin rottenplaces.de und das vierteljährlich erscheinende "rottenplaces Magazin" schreibt er für verschiedene, überregionale Medien. Winternitz macht sich stark für die Akzeptanz verlassener Bauwerke, den Denkmalschutz und die Industriekultur.