Nachgefragt bei: Klaus Lipinski

Der Düsseldorfer Klaus Lipinski ist Spurensammler. Auf seiner Webseite www.lipinski.de veröffentlicht er seit 1998 Fotografien von verlassenen und teilweise vergessenen Objekten in mehreren europäischen Ländern. Neben szenebekannten Bauwerken finden sich hier auch einige kunstvoll aufbereitete Perlen der Industriekultur. Seine Fotografien, die allesamt eine spannende Geschichte erzählen, zeigt Lipinski mal in Schwarz-Weiß, mal koloriert.

rottenplaces: Klaus, woher kommt die Faszination für diese besondere Art der Fotografie?

Lipinski: Genau sagen kann ich es eigentlich nicht. Ein bisschen hängt es vielleicht mit dem Gegenentwurf zu einer nervtötenden Glitzerwelt zusammen, von der ich mich mal mehr, mal weniger umgeben fühle. Eigentlich war ich schon als Jugendlicher von der harten Ausstrahlung der Industriegebiete fasziniert, als dann die aufkommende Punkbewegung „Zurück zum Beton“ forderte und die Ästhetik des Hässlichen salonfähig machte, wurden wohl bei mir die entscheidenden Weichen gestellt. Mir geht die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft auf die Nerven, die sich nur zu sehr auf schöne Fassaden jedweder Art konzentriert, ich brauche einen Gegenentwurf, der mich spüren lässt, dass es da noch etwas anderes gibt. Gesucht und gefunden habe ich das bei meinen Ausflügen, die mir einen Ausbruch aus meinem normalen Leben gestatten. Da ich nun schon als Teenager mit der Fotografie begonnen habe, lag es nahe, das Miteinander zu koppeln. Und so gibt es halt überwiegend Ruinöses von mir zu sehen. Ich kann aber auch Sonnenuntergänge. 🙂

rottenplaces: Fotografen, die ihre Berufung in der extravaganten oder urbanen Fotografie sehen, durch verlassene und teilweise einsturzgefährdete Gebäude streifen, werden sofort dem Urban Exploring zugeteilt. Würdest du das so unterschreiben oder ordnest du dich lieber als Fotograf zu Dokumentationszwecken ein?

Lipinski: Was soll eigentlich „extravagante“ Fotografie sein? Ich sehe Derartiges jedenfalls nicht bei mir. Dokumentation erfordert eine spezielle Methodik, die den fotografischen Prozess vom Motiv entkoppelt. Man reagiert dabei nicht mehr auf das Motiv durch individuelle Bildkompositionen. Zudem spielt dabei die Wertigkeit eine Rolle – im Hinterkopf sollte also immer die Frage gestellt werden, welchen Wert das gewählte Motiv für die Nachwelt hat. Dabei meine ich nicht das Objekt insgesamt, sondern wirklich das abgelichtete Motiv. Alte Toiletten erfüllen diesen Anspruch mit Sicherheit nicht, Gesamtansichten der Fassade schon eher. Da ich nicht nach einer solchen Methodik arbeite, betreibe ich auch keine Dokumentarfotografie. Als urbane Fotografie würde ich meine Fotografie auch nicht primär einordnen – es sind zwar allesamt menschliche Hinterlassenschaften, die ich da ablichte, aber etliche davon stehen in keinem urbanen Kontext. Ich sehe mich selber in der fotografisch orientierten Ecke des „Urban Exploring“ und dort in der eher gemäßigten Ausprägung. Mit 48 Lenzen gehe ich inzwischen lieber durch eine offene Tür, als über eine Mauer zu klettern. Aber wat mut, dat mut …

rottenplaces: Auf deiner Webseite finden sich ausgewählte und beeindruckende Gebäude, deren Glanzzeit längst verflogen ist. Einige wurden mittlerweile bereits abgerissen. Er-innerst du dich noch an dein erstes Objekt – welches war das – und wie war das Ge-fühl, ein solches zu erkunden?

Lipinski: Mein Hobby verlief rückblickend in Wellen. Die erste Location war eine Ziegelei bei Dormagen, irgendwann zu Beginn der 80er Jahre. Bis dahin bin ich regelmäßig durch Industriegebiete gestromert, hatte mein Augenmerk aber noch nicht auf den Zerfall gerichtet. Richtig gepackt hatte es mich dann erst zum Ende der 80er. Ich kam durch eine offen stehende Tür in den öffentlich nicht zugänglichen Teil der Zeche Zollverein. Es herrschte eine traumhafte Lichtstimmung, die Werkzeuge und Handschuhe der Arbeiter lagen noch herum. Das war ein Bild, was mich nie mehr losgelassen hat. Eine Mischung aus Authentizität und Traum, etwas was ich bis dato nie erlebt hatte. Diesen Moment habe ich dann in der Folgezeit immer wieder zu finden gesucht.

rottenplaces: Deine Fotografien werden auf deiner Webseite teilweise in Schwarz-Weiß und Farbe veröffentlicht. Warum entscheidest du dich für diese Art der Darstellungen?

Lipinski: Ich folge bei der Darstellung keinem speziellen Dogma. In seltenen Fällen habe ich bereits die Bilder im Kopf fertig, bevor ich eine Location besuche. Aber das bleibt zum Glück die absolute Ausnahme. Vor Ort stellen sich dann die ersten Weichen – das hängt von der jeweiligen Atmosphäre ab, meiner eigenen Stimmung und den übrigen Rahmenbedingungen. Ein zweites Mal entstehen die Bilder dann am Rechner. Etwa so wie früher in der Dunkelkammer. Erst dann entscheide ich mich für Farbe / teilcoloriert oder S/W. Ich möchte die spezielle Stimmung eines Objektes darstellen und dazu muss es legitim sein, einen entsprechenden Stil zu wählen. Für ein kunterbuntes oder pastellfarbenes Kinderheim wäre S/W die falsche Wahl, bei Industrieobjekten ist es meistens anders herum. In letzter Zeit gibt es bei mir allerdings wieder die Hinwendung zum klassischen S/W, was sicher auch damit zusammenhängt, dass ich die im Trend liegenden grauenhaft überprozessierten HDR-Aufnahmen anderer Fotografen einfach nicht mehr sehen kann. Ich kenne die Versuchung zum Aufdrehen der Regler aus eigener Erfahrung und weiß, wie schwer es manchmal ist, diesem Drang zu widerstehen. Heute nehme ich lieber die Farbe heraus oder wandle gleich auf S/W um. Das sind dann nachher gemappte oder HDR-Aufnahmen, denen man ihre Herkunft nicht mehr ansieht.

rottenplaces: Bei vielen Themen gehen die Meinungen auseinander. Welchen Fotografen man auch nimmt, der eine lichtet die Gebäude nur von außen ab, der andere legt Wert auf eine bunte Mischung zwischen Innen- und Außenaufnahmen und wieder andere dokumentieren fotografisch jeden Winkel und noch so kleinen Raum. Auch bei dir gibt es eine „bunte“ Mischung. Wie ist deine bevorzugte Herangehensweise?

Lipinski: Reine Außenaufnahmen gibt es nur dann, wenn ich nicht reinkomme. Aber so was bleibt bislang offline. Reine Innenaufnahmen zeige ich nur dann, wenn ein Bau von außen nicht erkannt werden soll. Ansonsten gehört alles dazu, was ein Objekt beschreiben kann. Allerdings mag ich keine Lichtschalter, Steckdosen und Toiletten mehr ablichten, es sollte schon etwas substanzieller sein. Dumm ist nur, wenn es dann nichts anderes zu sehen gibt.

rottenplaces: Welche Kamera(s) setzt du auf deinen Fototouren ein und was für ein Equip-ment wird von dir bevorzugt?

Lipinski: Nach vielem hin und her bin ich inzwischen bei zwei Systemen angekommen. Zum einen eine Mittelformat-SLR mit Digitalrückteil und analogen Magazinen als Backup. Zum anderen eine sehr kompakte MFT-Pseudo-Sucherkamera mit Wechselobjektiven. Den fotografierenden Ziegelstein nehme ich inzwischen nur noch ungern mit – die Aufnahmen werden durch die umständliche Handhabung immer sehr statisch, was nicht jedem Motiv bekommt. Außerdem fehlen mir da der starke Superweitwinkel, der Nahbereich und eine ausreichende Langzeitbelichtungsfähigkeit. Und nicht zu vergessen: Der Rücken dankt es mir, wenn ich nicht den ganzen Tag mit 10 oder mehr Kilo Gepäck herumlaufe. Eine Weile lang habe ich es auch mal mit einem Rollwagen probiert – aber das machte alles nur noch umständlicher. Die kompakte MFT erfüllt derzeit eigentlich alle meine Anforderungen – ich bleibe flexibel, kann alte Zeiss-Wechselobjektive verwenden, kann die Kamera auch schon mal in einer Jackentasche verbergen und damit den Spaziergänger mimen – und habe trotz relativ kleinem Chip eine sehr gute Bildqualität. Was will man mehr?

rottenplaces: Fotografen wie du sehen auf ihren Fototouren viel Vandalismus und kriminelle Energie, die den Gebäuden arg zugerichtet hat. Teilweise sind solche, nicht nachvoll-ziehbaren Entgleisungen der Grund für die Zerstörung und das Ende ganzer Objekte. Das Resultat sind komplexe Sicherheitsvorkehrungen der Eigentümer und harte Stra-fen für Fotografen, die ohne spezielle Genehmigung diese Objekte betreten. Wie ist deine Meinung zu diesem Thema?

Lipinski: Die Eigentümer haben Recht, die Fotografen das Nachsehen. Ich denke, dass sich diese Situation weiter zuspitzen wird. Vandalismus hat es leider schon immer gegeben – zumeist verübt von pubertierenden Schwachmaten, die gleich um die Ecke wohnten. Inzwischen gibt es jedoch noch eine andere Qualität. Dank der gestiegenen Popularität unseres Hobbys hat sich inzwischen ein regelrechter Ruinentourismus entwickelt, bei dem sich an manchen Orten die Leute die imaginäre Klinke in die Hand drücken können. Bei der Menge an „Explorern“ sind aber auch zunehmend schwarze Schafe unterwegs, die mit ihren Handlungen die Szene diskreditieren. Ich erinnere da nur an den Diebstahl und die Beschädigungen eines bekannten Foren-Admins, der mir damit zeitweilig die Gedanken ans Aufhören näher gebracht hat. Aber auch von einigen anderen Leuten sind Einbrüche oder das Versteigern von Gegenständen bei eBay bekannt. Solche Auswüchse sind Folge davon, dass zu viele Leute unterwegs sind, die im Ruinenkriechen weniger ein Lebensgefühl mit eigenem Ehrenkodex und mehr eine trendige Szenebewegung sehen. Je mehr davon auf den Zug aufspringen, desto schlechter für alle anderen. Konsequenterweise sollte man eigentlich gar nichts mehr publizieren. Aber dann bleiben immer noch die Kupferklauer, Warmsanierer und Spekulanten – gegen die hilft leider gar nichts. Insofern bleibt nur das Rennen gegen die Uhr, welches ich erst vorletztes Wochenende in Leipzig wieder mal verloren habe, wo tags zuvor der Dachstuhl einer Elektrofabrik abgefackelt wurde.

rottenplaces: Du hast auf deinen Touren in unterschiedliche Länder bereits viel gesehen und erlebt. Deine Ziele zerstreuen sich quasi in alle Himmelsrichtungen. Gibt es eine Location – wo auch immer – die du gerne einmal aufsuchen würdest?

Lipinski: Ja.

rottenplaces: Welche Ratschläge gibst du Einsteigern, die auch von diesem Virus – der extravaganten oder urbanen Fotografie, infiziert worden sind?

Lipinski: Versucht euch den Wettkampfgedanken um das schneller, extremer, riskanter zu entziehen und genießt in aller Ruhe die Orte, solange es sie noch gibt. Und immer schön vorsichtig sein!

rottenplaces: Was gibt es demnächst von Klaus Lipinski zu lesen, sehen oder hören, bzw. wie lauten deine Zukunftspläne?

Lipinski: Alles ist abhängig von der mir zur Verfügung stehenden Zeit. Locations gibt es noch wie Sand am Meer – unmöglich, alles zu besuchen. Im Moment erwärmt sich mein Herz für den Osten. Ich investiere lieber Zeit für Exkursionen und weniger für die Publikation. Insofern wächst der Bilderberg daheim und ich weiß nicht so recht, ob ich endlich mal den alten Industrieteil der Website überarbeiten soll oder lieber was Neues präsentiere. Mal schauen.

Wir danken Klaus Lipinski für dieses Interview.

Das Interview führte André Winternitz

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André Winternitz, Jahrgang 1977, ist freier Journalist und Redakteur, lebt und arbeitet in Schloß Holte-Stukenbrock. Neben der Verantwortung für das Onlinemagazin rottenplaces.de und das vierteljährlich erscheinende "rottenplaces Magazin" schreibt er für verschiedene, überregionale Medien. Winternitz macht sich stark für die Akzeptanz verlassener Bauwerke, den Denkmalschutz und die Industriekultur.