Nachgefragt bei: Marcus Rietzsch

Der selbständige Mediengestalter und Fotokünstler Marcus Rietzsch hat die Ruinenfotografie als Leidenschaft. Wenn der 41-jährige durch verlassene und verfallene Gebäude streift, dann fokussiert er Motive, die den Betrachter fesseln, faszinieren und bestürzen zugleich. Auf seiner Webseite www.mr-bilderwelten.de und in seinem Blog beschreibt Rietzsch fotografisch die Schönheit und Einzigartigkeit des Augenblicks. In diesem Jahr veröffentlichte er seinen zweiten Bildband. Wir haben nachgefragt…

rottenplaces: Marcus, Ruinenfotografie, was begeistert dich an diesem Thema und seit wann betreibst du dieses?

Rietzsch: Meine Leidenschaft entwickelte sich im Jahr 2004, als ich auf der Suche nach einer interessanten Örtlichkeit für Personenaufnahmen leer stehende Fabrikgebäude in Leipzig erkundete. Die verlassenen, teils recht großen Räumlichkeiten übten sofort eine gewaltige Faszination aus. In den Gebäuden herrschte eine nahezu absolute Stille. Nur die eigenen Schritte und später das Klicken der Kamera durchbrachen diese Lautlosigkeit. Mich beschlich das Gefühl, hier im Innern dieses Gebäudes würde alles Leben stillstehen, während sich die Erde vor den das Fabrikgelände umschließenden Mauern wie gewohnt weiter dreht. Es war eine außergewöhnliche Atmosphäre, die das Kopfkino in Gang setzte. Und auch heute begeistern mich die Bilder, die leer stehende Bauwerke vor meinem geistigen Auge entstehen lassen: Schemenhaft tauchen vor diesem lachende Kinder auf, die durch lange Gänge rennen. Oder verschwitzte Arbeiter, die es nicht erwarten können, nach Hause zu eilen. Hier und da erzählen die Mauern auch von Tragödien. Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Oder Soldaten, die den Rest ihres Lebens die Grausamkeit des Krieges in sich trugen. Ein verstaubtes Klavier lässt leise Melodien aus längst vergangenen Zeiten an mein Ohr fliegen. Mich faszinieren die Vergänglichkeit und der sichtbare Lauf der Zeit. Das eigene Ich im Angesicht der Zeit scheinbar unbedeutend. Und in diesem Augenblick doch so wichtig.

rottenplaces: Besuchst du deine ausgewählten Fotoobjekte nur um sie zu erkunden und fotografisch „abzulichten“, oder steckt ein tieferer Gedanke dahinter?

Rietzsch: Sehr gerne besuche ich alte Friedhöfe. Hier spüre ich sozusagen der Endlichkeit und deren „Ästhetik“ nach. Ähnlich ist es bei verlassenen Gebäuden. Man fühlt und sieht das Werden, das Sein und das Vergehen, was durchaus eine gewisse Melancholie auslöst – aber in den wenigsten Fällen Schwermut und Traurigkeit. Es hat auch etwas Tröstliches, wenn man entdeckt, dass sich die Natur hier und da ihren Teil zurückerobert.

rottenplaces: Welche Objekte reizen dich aus fotografischer Sicht am meisten und warum?

Rietzsch: Besondere Freude habe ich an Objekten, bei denen der „natürliche“ Verfall zu sehen ist. Leider trifft man viel zu oft auf Vandalismus. Gebäude, die davon noch „unberührt“ sind, haben etwas Magisches. Abblätternder Putz, der aus Wänden Kunstwerke erschafft. Von Spinnweben verhüllte Gegenstände. Oder dicke Staubschichten, die sich auf Möbel und Maschinen gelegt haben. Bauwerke, in denen man das frühere Leben anhand zurückgelassener Gegenstände und Mobiliar spürt und fotografisch festhalten kann. Ebenso reizvoll ist aber auch das Einfangen unterschiedlicher architektonischer Ansichten. Früher wurde weniger nüchtern gebaut, die Leidenschaft für die Wirkung eines Raums bzw. Gebäudes spiegelt(e) sich in Details und Materialien wider. Ebenso erstaunlich ist die bereits angesprochene Natur, die als Gestalter wirkt. Moosteppiche, Pilzkolonien, ganze Bäume, die für eine besondere „Innenarchitektur“ sorgen.

rottenplaces: Deine „Lost Places“ der Begierde führen dich ja nicht nur durch das gesamte Bundesgebiet. Man lernt viele Städte und Orte kennen, trifft auf die verschiedensten Menschen und erlebt die unterschiedlichsten Situationen. Hast du auf einer deiner Touren schon einmal etwas kurioses oder merkwürdiges erlebt – und wenn ja, was?

Rietzsch: Bei der Erkundung einer Kaserne empfand ich die Entdeckung von Schafshinterlassenschaften im dritten Stock überaus merkwürdig. Die Vorstellung von massenhaft neugierigen Schafen, welche die Treppen nach oben gestiegen sind, zauberte ein Grinsen in mein Gesicht. Ungewöhnlich war der „Wald“ auf dem Dachboden eines verlassenen Gebäudes. Der Dachstuhl war nicht mehr vorhanden. Dafür hatten sich dicke Bäume angesiedelt. Hier oben wandelte man auf Waldboden. Acht Meter über dem eigentlichen Boden. Rätselhaft die Entdeckung mehrerer leuchtender Schalter. Der Stromkasten daneben war noch in Betrieb, obwohl das Gebäude bereits seit mindestens zwei Jahren leer stand.

rottenplaces: Es gibt die verschiedensten „Blickwinkel“ – wie auch bei der Ruinenfotografie. Während einige Fotografen nur gewisse Motive bevorzugen, legen andere Wert auf eine ausführliche Bilddokumentation, fokussieren fotografisch jeden Winkel und noch so kleinen Raum. Auch bei dir gibt es eine „bunte“ Mischung. Wie ist deine bevorzugte Herangehensweise und warum?

Rietzsch: Für mich zählt die Wirkung des Bildes. Ein Stück weit geht es hierbei auch um Dokumentation, in erster Linie aber um die Atmosphäre. Um das Einfangen der Stimmung und der Anregung der Fantasie des Betrachters. Neben beindruckender Architektur berühren mich besonders die Kleinigkeiten, die man leicht übersehen könnte. Eine Krücke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf einem Dachboden, Gesetzesblätter der untergegangenen DDR, ein Geschäftsbuch in kyrillischer Schrift: Dahinter stecken Jahre von Geschichte und Jahre von Menschenleben. Die richtige Umgebung, die passende (Licht)stimmung – so hält das Bild die gewünschte Aussage fest.

rottenplaces: Welche Kamera(s) setzt du auf deinen Fototouren ein und was für ein Equipment wird von dir bevorzugt?

Rietzsch: Ich benutze ausschließlich die Canon EOS 60D. Dazu die folgenden Objektive: Sigma 8-16 mm, Sigma 18-50 mm und Canon 75-300 mm. Entscheidend für die Wahl des Objektives ist das Motiv. Ich erfreue mich sowohl an der Gesamtwirkung eines Raums als auch an diversen kleineren Details. Auf ein Stativ verzichte ich meistens. Lieber erhöhe ich die ISO-Zahl, was so manchem Bild auch einen speziellen und wie ich finde durchaus stimmigen Charakter verleiht.

rottenplaces: Fotografen wie du sehen auf ihren Fototouren zu verfallenen und verlassenen Objekten und Orten viel Vandalismus und kriminelle Energie, die den Gebäuden und Plätzen arg zugerichtet hat. Teilweise sind solche, nicht nachvollziehbaren Entgleisungen der Grund für die Zerstörung und das Ende selbiger. Das Resultat sind komplexe Sicherheitsvorkehrungen der Eigentümer und harte Strafen für Fotografen, die ohne spezielle Genehmigung diese Objekte betreten. Wie ist deine Meinung zu diesem Thema?

Rietzsch: Es ist traurig, dass einige Menschen Spaß daran findet, Dinge mutwillig zu zerstören. Der Sinn dahinter blieb mir bisher verborgen. Auch die Schmierereien an Wänden etc. sind überaus ärgerlich. Die Skepsis gegenüber Fotografen – die für gewöhnlich ja keine Spuren hinterlassen – ist dadurch in den letzten Jahren unweigerlich gestiegen. Leider ist dies wohl nicht mehr zu ändern. So müssen die Fotografen die Folgen der Taten einiger hirnloser Menschen tragen.

rottenplaces: Marcus, du hast auf deinen Fototouren bereits zahlreiche Orte und Objekte besucht. Gibt es eine Location – wo auch immer – die du gerne einmal aufsuchen würdest und warum?

Rietzsch: Es gibt einige Objekte bzw. Orte, die auf meinem Wunschzettel stehen. Unter anderem ein im 2. Weltkrieg zerstörtes Dorf in Frankreich. Ebenso wie einige Geisterstädte in den USA. Sicherlich sind dies in gewisser Weise beklemmende Orte mit einem stückweit Morbidität. Hier endeten Träume und sogar Menschenleben. Aber auch einige architektonisch wundervolle Bauwerke, wie beispielsweise eine Halle in Belgien, üben aufgrund ihrer einmaligen Schönheit eine besondere Anziehungskraft auf mich aus.

rottenplaces: In diesem Jahr hast du deinen 2. Bildband veröffentlicht. Das Werk heißt „Schon unser Heut ein Gestern ist“. Was hat es damit auf sich und was erwartet den Betrachter bei diesem Werk?

Rietzsch: Bei der Beschreibung des aktuellen Bildbands möchte ich gerne auf die Worte des Klappentextes zurückgreifen. Sie beschreiben – wie ich finde – das Buch sehr passend: Für meinen zweiten Bildband begab ich mich auf die Spuren des alltäglichen Verfalls, dessen außergewöhnlicher Zauber abgeschirmt hinter Absperrzäunen und mit Brettern vernagelten Fenstern auf neugierige Entdecker wartet. Dem Betrachter bietet sich ein in Bildern festgehaltener Streifzug durch die gegenwärtige Vergangenheit. Sichtbar die Zeit, die wie ein Mühlstein der Geschichte an Mauern, Türen, Wänden und zurückgelassenen Gegenständen gearbeitet hat. Verwaiste Objekte, aus denen das menschliche Leben verschwunden ist. Doch die Erinnerungen und Geschichten klammern sich geisterhaft an morsche Treppengeländer oder materialisieren sich in lichtdurchfluteten leeren Räumen. Eine perfekte Ergänzung finden die bildhaften Gedanken über Vergessen, Vergangenheit, Erinnerung, Leben, Geschichte und Geschichten in individuell gestalteten Zitaten von Christian Morgenstern, Franz Kafka, Jean Paul, Friedrich von Schiller und anderen.

rottenplaces: Was gibt es demnächst von Marcus Rietzsch zu lesen, sehen oder hören, bzw. wie lauten deine Zukunftspläne?

Rietzsch: Einige Ausstellungen begleiteten die Veröffentlichung des Bildbands. Nun strebe ich weitere Ausstellungen an. Hier ist aber momentan noch nichts spruchreif. Übrigens bin ich für Hinweise bzgl. Ausstellungsmöglichkeiten immer sehr dankbar. Ich hoffe, dass sich in absehbarer Zukunft meine Leidenschaft für Musik und Fotografie in Form einer Publikation in Kooperation mit einer Band vereinen lässt. Aber dieser Wunsch steht noch ziemlich am Anfang. Neben der Begeisterung für das Ablichten von leer stehenden Gebäuden widme ich mich gerne auch inszenierten Bildern.

Der Bildband ist über den Internetshop von T-Arts (www.shop.t-arts.de) erhältlich, ebenso über die Edition Subkultur des Berliner Verlags Periplaneta (www.edition.subkultur.de) und natürlich über den Buchhandel.

Wir danken Marcus Rietzsch für das Interview.
Das Interview führte André Winternitz

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André Winternitz, Jahrgang 1977, ist freier Journalist und Redakteur, lebt und arbeitet in Schloß Holte-Stukenbrock. Neben der Verantwortung für das Onlinemagazin rottenplaces.de und das vierteljährlich erscheinende "rottenplaces Magazin" schreibt er für verschiedene, überregionale Medien. Winternitz macht sich stark für die Akzeptanz verlassener Bauwerke, den Denkmalschutz und die Industriekultur.